Das Echo der Vergangenheit

Torsten atmet einmal tief durch bevor er den Schlüssel ganz nach links umdreht. Dann öffnet er die Haustür, tritt ein und schließt sie wieder hinter sich. Er war das letzte mal vor drei Wochen hier gewesen, um die nötigsten Unterlagen für den Bestatter herauszusuchen. Glücklicherweise hat der Bestatter sich um alles gekümmert und seine Mutter war gut organisiert gewesen. Oft hatte sie vom „roten Ordner in dem alles drin ist“ gesprochen. Und so war es auch gewesen. Torsten hatte immer gewußt wo dieser Ordner stand: im Kleiderschrank ganz unten, bei der Kassette mit dem Schmuck.

Torsten verharrt im Windfang, die Luft im Haus ist stickig, aber vertraut. In diesem Haus war er groß geworden, hier kannte er jeden Winkel. Sein Blick fällt auf die Schuhe seiner Mutter im Windfang. Als wäre sie gerade erst reingekommen und hätte ihre Schuhe halbwegs ordentlich auf dem Fliesenboden gestellt.

Die Fliesen sind kühl, sie sind immer kühl, hier im Windfang ist auch immer die Heizung aus. Torstens Po ist schon ganz kalt, aber der kleine Torsten sitzt hier seit bestimmt einer viertel Stunde und lässt sich erklären, wie er eine Schleife bindet. Sein großer Bruder ist geduldig: „Nein schau, jetzt hast du es wieder falsch gemacht. Du musst erst das rechte Ohr machen, dann das andere Band drum herum und dann so hier durchziehen.“ Torsten gibt sein bestes, konzentriert sich sehr darauf alles richtig zu machen. Er liebt seinen älteren Bruder und lernt so viel von ihm. Oft streiten sie sich, wie das unter Brüdern eben so ist. Manchmal prügeln sie sich auch, jedenfalls nennen sie es beide so. Auch wenn Torsten zwei Jahre jünger ist, manchmal gewinnt er schon gegen seinen Bruder. „Ja, siehst du, jetzt ist es richtig“, jubelt Torstens Bruder. „Ich mach dann immer noch einen Knoten mit den beiden Ohren der Schleife, dann gehen die garantiert nicht auf.“
„Seid ihr fertig? Wir müssen los, die Geschäfte schließen bald“, ruft ihre Mutter aus der Küche. „Ja-ha, wir sind so weit“, antworten beide Jungs wie aus einem Munde.

Torsten streift seine Schuhe ab und verlässt den Windfang. Wohin zuerst? Erst einmal nach rechts in die Küche, der Ort in dem seine Mutter viel Zeit verbracht hat. Er geht ganz bis hinten durch zur Sitzecke, auf dem Weg dahin greift er sich ein Glas von der Spüle und füllt es mit Leitungswasser. Er setzt sich, so das er die ganze Küche sehen kann. Dies war schon immer sein Platz. Er trinkt ein paar Schlücke, stellt das Glas ab, die Ruhe des Hauses erfasst ihn. Außer dem regelmäßigen Ticken der Küchenuhr ist kein Geräusch zu hören. Er blickt auf den Familienkalender der an der Wand über dem Tisch hängt. Die Handschrift seiner Mutter in drei Spalten. Ihre eigene Spalte, die von ihm und die von seinem Bruder. Alle Spalten gefüllt mit Terminen die weit in die Zukunft reichen. Der Kalender sagt: du darfst noch nicht gehen, du hast noch so viel geplant. Torsten überkommt tiefe Trauer, aber auch Dankbarkeit. Viele der Termine in seiner Spalte haben mit seinen beiden Kindern zu tun. Seine Mutter hat sie geliebt, sie haben ihre Oma geliebt, für die Kinder hat die Oma alles stehen und liegen lassen.

„Hast du die Arbeit schon in den Kalender eingetragen?“, fragt Torstens Mama ihn während sie mit zwei Pfannen klappert, die sie aus dem Geschirrspüler ausräumt. „Nein, steht da nicht.“, antwortet Torsten. Er erhebt sich von seinem Platz und greift nach dem Kalender an der Wand, legt ihn vor sich und sucht. Nächste Woche Donnerstag also. Er findet das Kästchen in seiner Spalte und trägt „Englisch“ ein. „Gut, dann nochmal“, sagt seine Mutter. „Werden“. „Become, became, become“, antwortet Torsten wie aus der Pistole geschossen. Seine Mutter nickt zufrieden „Und als letztes: gehen“. „Walk, walked, walked“. „Sehr gut“, lobt ihn seine Mutter, kommt näher, reicht ihm das Vokabelheft und streicht mit ihrer Hand über seinen Hinterkopf. „Ich ruf euch, wenn das Essen fertig ist“, sagt seine Mutter und wendet sich wieder der Küche zu. Torsten springt auf: „Was gibt es heute?“, fragt er während er aus der Küche hinausläuft. „Gulasch mit Kartoffeln und Rotkohl“, antwortet seine Mutter. Torsten flitzt um die Ecke in den Flur um in seinem Zimmer zu spielen.

Torsten verlässt die Küche durch den zweiten, seitlichen Küchenausgang der direkt ins Wohnzimmer führt. Hier hat alles seine Ordnung, aber nicht aufdringlich ordentlich. Torsten lässt seinen Blick schweifen. Der Anrufbeantworter auf dem altmodischen Telefontischchen blinkt, es gibt neue Nachrichten. Torsten ist aber nicht danach diese jetzt anzuhören, die Nachrichten kommen aus einer anderen Zeit. Auf dem Couchtisch liegt die aufgeschlagene Fernsehzeitung von vor vier Wochen, als alles noch normal war. Er tritt näher an das Sitzensemble heran, vor einigen Jahren hatte seine Mutter die Möbel neu beziehen lassen. Torsten mag keine Veränderungen, er hat damals nicht die Notwendigkeit gesehen diese Verschlimmbesserung eines Bezuges durchzuführen. Die Sonne draußen steht schon tief und wirft ihr helles Licht auf den Fernseher auf dem sich Staubkörner gesammelt haben.

Torsten zieht die Gardine hektisch vor das Fenster, die Sonne nervt. Im noch ausgeschalteten Fernseher sieht er nur die Spiegelung des Wohnzimmers. „Ach, Torsten, lass doch bitte die Gardine auf“, ruft seine Mutter genervt aus der Küche. Sie mag es nicht, wenn er es im Wohnzimmer dunkel macht. „Aber dann kann ich nichts sehen“, erwidert Torsten. Er will auf keinen Fall den Anfang von Flipper, seiner Lieblingsserie verpassen. Er darf sowieso nur viel weniger sehen als seine Klassenkameraden, da muss die wenige Zeit eben perfekt sein. Im Winter ist es besser, da ist es um fünf schon dunkel. „Na gut, danach machst du aber wieder auf, ok?“, ruft seine Mutter. „Ja, Mami.“ Und damit hüpft Torsten auf das Sofa und drückt auf der Fernbedienung auf die sechs, den Programmspeicherplatz von Sat.1. Keine Minute zu früh, keine Minute zu spät, es geht gerade los, der Delfin erscheint auf dem Fernseher.

Torsten wird abrupt aus seinen Gedanken gerissen, als es an der Haustür klingelt. Er hat ganz vergessen, dass er sich mit seinem Bruder hier verabredet hat. Torsten geht zügig durch das Wohnzimmer in den Flur und weiter in den Windfang und öffnet. Vor der Tür steht sein Bruder: „Hi“, sagt Torsten leicht bedrückt, „Hi“, antwortet sein Bruder. Torsten macht seinem Bruder Platz, dass dieser eintreten kann und schließt hinter ihm wieder die Tür. Als er sich zu seinem Bruder umdreht schauen die beiden sich für ein paar Sekunden in die Augen, „Uff“, sagt Torsten, sein Bruder nickt nur, sie nehmen sich in die Arme und halten sich für ein paar Augenblicke fest in den Armen.

Das Echo der Vergangenheit
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Veröffentlicht: Juni 2025