Die unsichtbare Grenze

Erstes Kapitel: Tschüüüüüüüss, bis bald!

Charlotte seufzte leise. Das hier würde sie vermissen.

Sie erhob das Glas in der eine kühle Weißweinschorle auf den ersten Schluck wartete und prostete ihrer besten Freundin zu: „Auf Dich, alles gute zum Geburtstag“, sagte sie. Mit einem schönen Klirren stießen die beiden Gläser aneinander, die Eiswürfel klöterteten bei der Bewegung im Weinglas.

Anschließend schaute sie in die Runde der Freundinnen am Tisch und sie prosteten sich alle gemeinsam, lächelnd zu. Die Sonne stand schon tief, leuchtete fast senkrecht durch die hohen Fenster der schönen Neubauwohnung mit Blick auf das Wasser und lies den schön gedeckten Tisch in besonderem Licht erscheinen an dem die sechs Freundinnen saßen um gemeinsam zum Abend zu Essen und den Geburtstag von Julia zu feiern.

Julia hatte Sushi für alle bestellt, die schön angerichteten Platten standen in der Mitte vom Tisch. Nachdem die Freundinnen einen Schluck ihres kühlen Getränks zu sich genommen hatten, wanderten die Stäbchen wie Raubvögel zu den Platten und schnappten sich ein paar hilflose Röllchen. Alle hatten Hunger. Die Stimmung war gelöst und fröhlich. Es war immer schön in diesen oder ähnlichen Runden, die Charlotte sehr früh am nächsten Morgen für 4 Monate hinter sich lassen würde, um ein Praktikum in New York zu absolvieren. Das Praktikum bedeutet das Ende ihres Master Studiums „Wealth and Asset Management“ und machte ihr den weg frei um in die Welt der Family Offices einzusteigen.

„Und was wirst du da genau machen?“, fragte Julia ihre Freundin Charlotte. Charlotte hatte es natürlich schon oft erklärt, aber bereitwillig antwortete sie: „Ich werde beim Rockefeller Capital Management arbeiten. Das ist ein Family Office das ganz viele verschiedene Kunden in New York beziehungsweise an der Ostküste der USA hat. Mir wurde gesagt, dass ich mit einem erfahrenen Wealth Manager an meiner Seite sogar meinen eigenen Kunden haben werde. Natürlich keinen großen Account, aber irgendwo muss man ja anfangen“, sie lachte in die Runde, die in ihr Lachen mit einstieg. „Und wann geht es los?“, fragte eine andere von Julias Freundinnen. „Gleich morgen früh um acht fliege ich über Frankfurt nach New York“, antwortete Charlotte und fügte hinzu: „Deswegen kann ich heute auch nicht so lange mit euch feiern, ich muss morgen früh raus. Habe aber schon alles gepackt!“. Alle lächelten, nickten und schoben sich weiter Sushi Röllchen in den Mund und kauten genüsslich.

„Kommt dein Freund denn eigentlich mit?“, fragte jemand aus der Runde.

„Nein, der bleibt hier, der hat ja seinen Job hier.», antwortete Charlotte.

„Was macht der noch mal?“

„Der ist Patentanwalt in München, der merkt wahrscheinlich gar nicht, dass Charlotte weg ist.», stieß Julia lachend aus.

„Ja, das kann schon sein“, antwortete Charlotte belustigt und nahm noch einen Schluck aus ihrer Weinschorle. Besonders oft sahen sie und ihr Freund sich tatsächlich nicht seit letztem Sommer, als er für seinen ersten Job nach München gezogen ist. Aus ihrer Sicht war das aber ok. Ihr Freund war toll, aber sie wollte ihr Leben noch nicht von jemand anderes abhängig machen. Sie hatte sich schon als kleines Mädchen vorgenommen ihren eigenen Weg zu gehen und keine Rücksicht auf andere zu nehmen. „Würde mich nicht wundern, wenn du da bleibst“, lenkte eine der Sushi-Esserinnen das Gespräch wieder zurück auf New York, „ich liebe diese Stadt“. Kauend nickten ihr einige Köpfe bestätigend zu.

Das Gespräch am Tisch wanderte weiter zu den Plänen für den kommenden Sommer der anderen Freundinnen, alle planten auf die eine oder andere Weise ihren Einstieg in das Berufsleben, teilweise bei ihren Eltern, teilweise bei Freunden oder Kontakten der Eltern.

Als das Sushi fast aufgegessen war, lief Julia mit der Wein- und Wasserflasche um den Tisch und goß ihren Freundinnen ein weiteres Glas Weinschorle ein. Geschickt balancierte sie die Wein- und die Wasserflasche - das machte sie nicht zum ersten mal, während ihres Studiums hatte sie nebenher in dem Hotel ihrer Eltern gekellnert. „Eis müsst ihr euch bitte aus dem Ice-Cooler vom Tisch drüben selber nehmen, das hol ich jetzt nicht auch noch für euch“, lachte Julia ihre Gäste an. Einige standen auf und ließen ein paar Eiswürfel in ihre Gläser fallen, es war klar, dass das Essen jetzt beendet war.

„Wollen wir noch ein bisschen auf die Terrasse gehen und den Sonnenuntergang anschauen?“, fragte Charlotte. „Oh ja, gute Idee, ich brauche dringend frische Luft nach all dem Sushi!“, rief eine der jungen Frauen. „Und ich will endlich eine rauchen!“, rief eine andere.

Charlotte öffnete die Terrassentür und trat hinaus. Die abendliche Kühle tat gut, sie sog die Luft ein, schloss die Augen und genoss die untergehende Sonne, die ihr ins Gesicht schien. Julia stellte sich dicht neben sie, legte ihren Kopf auf Charlottes Schulter und sagte: „Ich werde dich vermissen, Maus.“ Anstatt zu antworten, legte Charlotte ihrer Freundin den Arm um die Taille und bot ihr das Weinglas zum Anstoßen an. Die Gläser klirrten, mehr musste in diesem Moment nicht gesagt werden. Mit einer gewissen Wehmut schauten die beiden der untergehenden Sonne über dem Wasser zu.

Mit einem Seufzer löste sich Charlotte von ihrer Freundin: „Ich muss jetzt los, muss ja morgen früh raus.“ „Na klar“, antwortete Julia. Auch wenn es nur ein kleiner Abschied war, sie war nicht gut darin. Charlotte kannte ihre Freundin gut und wusste das, daher gab sie ihrer Freundin nur einen leichten Kuss auf die Wange und sagte „Tschüss!“, wendete sich in Richtung Terrassentür und rief den anderen Freundinnen auf dem Weg zur Tür ein „Tschüüüüüüüss, bis bald!“ zu. Die Freundinnen drehten sich erstaunt um und riefen ihr „Tschüss Charlotte, guten Flug!" aus vielen Mündern zu.

Als Charlotte wieder das Innere der Wohnung betrat, lief sie schnurstracks auf ihren Platz am Esstisch zu, schnappte sich ihre Handtasche, die dort über dem Stuhl hing, und ging weiter zur Wohnungstür. Auf dem Weg durchs Treppenhaus, fummelte Charlotte ihren Autoschlüssel aus der Handtasche und betätigte die Fernbedienung für ihren Mini, der auf dem Parkplatz vor Julias Wohngebäude stand. Es wurde nun schnell dunkler und ihr geliebtes Auto empfing sie mit angenehmer Beleuchtung.

Sie setzte sich rein, platzierte ihre Handtasche auf dem Beifahrersitz, klappte die Tür zu und schnallte sich an. Anschließend betätigte sie den Start-Stop-Schalter und ihr Mini startete den Motor mit einem kleinen Röhren. Sie trat auf die Bremse, schaltete den Wagen auf „D“ und ließ ihn langsam vom Parkplatz rollen.

Ohne den Blinker zu setzen, bog sie nach einem kurzen Blick nach links auf die Hauptstraße ab und beschleunigte ihren Wagen.

Sie war in einer melancholischen Stimmung seit dem Abschied, gepaart mit einer gewissen Unruhe und einer Aufbruchstimmung, das brauchte den dazugehörigen Soundtrack. Sie griff nach rechts zu ihrer Handtasche und suchte darin blind nach ihrem Handy. Als sie es in ihrer Handtasche gefunden hatte, aktivierte sie das Display. Sie hatte ein paar neue Nachrichten, die mussten warten. Der Soundtrack zu ihrer Stimmung war wichtiger. Sie wischte auf dem Display herum, um es zu entsperren, musste dafür kurz in die Kamera des Handys schauen, bevor sie wieder auf die Straße schaute, um sicherzustellen, ob sie noch in der Spur fuhr. Ihr Daumen schwebte über dem Display, ein weiterer Blick auf das Handy verriet ihr, dass ihr Daumen schon an der richtigen Stelle über der Spotify-App schwebte. Ihr Daumen berührte das Glas.

Während sie darauf wartete, dass sich die Spotify-Oberfläche lud, stellte sie fest, dass in einiger Entfernung vor ihr eine Ampel auf Rot sprang. Sie nahm den Fuß vom Gas und rollte bis zur Haltelinie vor. Bis auf ein Auto in einiger Entfernung hinter ihr war die Straße wie ausgestorben. Während sie an der Ampel wartete, hatte sie Zeit, bei Spotify zu suchen. In das Suchfeld tippte sie „Agnes Obel“ ein und wählte das erste Lied aus der Liste aus. Die Ampel sprang auf Grün. Das Handy noch in der Hand bemerkte sie, dass „Familiar“ nicht das Lied war, das sie hören wollte, sie wollte „Riverside“ hören. Abwechselnd versuchte sie, sich auf die Straße und das Suchfeld zu konzentrieren. Sie tippte „Riverside“ ein, da war das Lied, das sie hören wollte.

In dem Moment, als sie den Song mit ihrem Daumen auswählte, wurde der Innenraum ihres Autos von einem regelmäßig blinkenden, blauen Licht erleuchtet. Sie wusste, was das bedeutete, legte leise fluchend ihr Handy auf den Beifahrersitz und kam langsam zum Stehen.

Zweites Kapitel: Die Runde geht auf mich

Verschwitzt und noch leicht außer Atem öffnete Benno die Tür zum Vereinsheim, das gleich neben dem neuen Kunstrasenplatz lag, auf welchem er gerade mit seiner Mannschaft trainiert hatte.

Er hatte seine Schienbeinschoner schon gelockert und trug seine Trainingstasche lässig mit einer Hand über der Schulter. Auch wenn es draußen nicht mehr so kalt war wie noch vor einigen Tagen, war der Temperaturunterschied zum Innenraum des Vereinsheims wie eine kleine Wand gegen die er lief.

„Auf dich!", schallte es ihm von der Bar entgegen.

Er lächelte den älteren Männern etwas unsicher entgegen. Seit letztem Sonntag war er so etwas wie der Star der 1. Herrenmannschaft seines Vereins, dem ASV Brückenfeld. Der Verein war klein, für eine 2. Herrenmannschaft hat es nie gereicht.

Benno hatte als linker Verteidiger das entscheidende Tor gegen den lokalen Erzrivalen SC Altwasser West nach einem gut platzierten Eckball ins Netz geköpft und damit den Aufstieg gesichert und einen seltenen Sieg gegen den Erzrivalen möglich gemacht.

„Prost", „Prost", „Prost" schallte es vom Tresen aus durstigen Kehlen herüber und drei Köpfe kippten fast gleichzeitig wie beim Synchronschwimmen in den Nacken. „Komm ran, Benno, die Runde geht auf mich", rief ihm Thorsten von hinter dem Tresen zu. Thorsten war nicht nur der Betreiber des kleinen Vereinsheims, sondern auch sein Trainer. Er winkte Benno bei den Worten zu, näher zu kommen. Benno grinste etwas verlegen, während er sich der Bar näherte. Er ließ seine Sporttasche auf den Boden vor der Bar rutschen.

Eine Hand der Bargäste klopfte ihm fest auf die Schulter. Alle hier waren ordentlich stolz auf ihn, Benno genoss es, konnte mit dem Ruhm aber auch nicht so ganz umgehen.

„Nee danke, ich fahr gleich noch zu meiner Freundin", erwiderte Benno auf die Einladung zum Bier, das von Thorsten schon gezapft wurde. Mit einem Seitenblick auf Benno sagte Thorsten: „Das ist Regenration im Glas, Benno." Zustimmendes, wissendes Nicken von den anderen Tresenplätzen. Benno gab auf, setzte sich auf einen freien Barhocker und gab Thorsten mit einer kleineren Geste zu verstehen, dass er das Bier akzeptierte.

In der Zwischenzeit kamen auch Bennos Mannschaftskollegen in das Vereinsheim, es wurde lauter, die Stimmung war nach wie vor gelöst durch den Sieg von vor ein paar Tagen. Die gute Stimmung und die bessere Moral konnte man auch beim ganzen Training schon spüren, alle Pässe waren präziser, härter, weniger Einzelaktionen, mehr Mannschaft.

Schon von der Tür aus wurden Thorsten weitere Bestellungen zugerufen, es wurde langsam voll in dem kleinen, dunklen Vereinsheim. Seit einigen Jahren wurde für eine Renovierung gesammelt, aber irgendwie auch nur halbherzig, eigentlich mochten alle das Vereinsheim, so wie es war.

Benno nahm einen Schluck von seinem Bier, es war schön kühl und fühlte sich gut an. Er nahm nicht nur einen Schluck, sondern gleich drei, vier große Schlücke, vielleicht war was an Thorstens Spruch dran. Irgendwo hatte Benno auch mal gehört, dass Bier quasi isotonisch ist.

Die Stimmung war gelöst, die vollen Biergläser rutschten über die Bar in Richtung der Gäste. Natürlich wurde der Eckstoß und das Tor immer und immer wieder diskutiert, einige waren der Meinung, dass es Glück war und der Schiri nicht gesehen hatte, dass Benno im Abseits stand. Das konnte die Stimmung aber nicht weiter drücken, letztendlich zählte das Endergebnis beim Abpfiff.

Benno schaute auf sein Handy, 19:25. Er brauchte ungefähr 20 Minuten, von hier zu seiner Freundin, sie waren um 20:00 Uhr verabredet. Bennos Freundin war ein paar Jahre jünger und machte eine Ausbildung zur Köchin. Sie hatte sicher wieder etwas Leckeres aus dem Restaurant mitgebracht, in dem sie ihre Ausbildung absolvierte.

„Gut, ich muss dann mal“, sagte Benno nickend in die Runde.

„Nee, nee, so einfach kommst du mir nicht davon, du bist schon am Sonntag nach dem Spiel sofort abgehauen“, kam es von Thorsten zurück.

„Ich muss jetzt aber echt los, für mich wurde gekocht!“, erwiderte Benno entschuldigend und griff nach seiner Tasche, die zu seinen Füßen lag.

„Ach komm, dann wenigstens noch einen Schnellen für den Weg“, sagte Thorsten und war schon dabei, mehrere kleine Gläser auf dem Tresen auszubreiten.

Den Klaren, den Thorsten immer ausschenkte, mochte eigentlich niemand, aber es gehört irgendwie dazu. Thorsten war schon dabei, die Gläser aus der eisüberzogenen Flasche zu füllen, als Benno halbherzig sagte: „Ich muss aber noch fahren.“

Tief in seinem Inneren wusste er, dass er um den Kurzen nicht drumherum kam, also Augen zu und durch. Die Gläser wurden verteilt, „Prost“, „Prost“, „Prost“, „Prösterchen ihr Säcke“ schallte es aus vielen Mündern und anschließendes Gelächter. Benno kippte das Glas in seinen Mund, den Kopf nach hinten, knallte das Gläschen wieder auf den Tresen, schulterte seine Tasche und rief „Tschö mit ö, bis Donnerstag“ in die Runde, die selber noch mit dem Brennen in der Kehle beschäftigt war und so keine weiteren Einwände gegen Bennos Abgang von sich geben konnte.

Benno verließ das Vereinsheim, die kühle Luft tat ihm gut, langsam wurde es auch dunkel. Mit einer Hand suchte er nach dem Schlüssel zu seinem Audi, den er sich zum Anfang seiner Ausbildung gebraucht gekauft hatte. Er fand den Schlüssel, betätigte den Knopf, um das Fahrzeug per Funk zu öffnen, es blinkte auf dem Parkplatz und schaltete die Beleuchtung im Innenraum ein, mit den Scheinwerfern leuchtete es ihm den Weg. Als er beim Auto ankam und die Tür öffnete, schmiss er seine Tasche auf den Beifahrersitz und ließ sich in den Fahrersitz fallen. Sein Handy zeigte 19:29 an, er öffnete WhatsApp und schrieb seiner Freundin: „Ich fahr jetzt los 😘“, dann legte er das Handy in die Mittelkonsole, steckte den Schlüssel in die Zündung und drehte ihn rum, während er mit der linken Hand nach dem Gurt griff und sich gekonnt mit einer ruhigen Bewegung festschnallte.

Langsam rollte er vom Parkplatz, blinkte links, schaute nach links, dann nach rechts, dann wieder nach links und bog vom Parkplatz auf die Straße ab. Bei der schnellen Links-Rechts-Links-Kopfbewegung fühlte er das Bier und den Kurzen in seinem Kopf, aber jetzt war wieder alles gut. Benno beschleunigte auf die Straße und fädelte sich nach der nächsten Ampel auf der rechten Seite in den Verkehr ein. Er stellte sein Soundsystem an, es verband sich mit seinem Handy und spielte automatisch seine Discover-Weekly-Playlist weiter ab, die er vorhin angefangen hatte zu hören. Der Algorithmus hatte ihm wieder ein paar gute Songs reingespült.

Nach wenigen Minuten auf der Hauptstraße bemerkte Benno, dass alle Autos von der linken Spur auf seine Spur wechseln wollten. Bereitwillig ließ er einige Autos in die Lücke vor ihm einscheren. Der Verkehr wurde langsam, Benno erkannte den Grund: Die linke Spur war weiter vorne gesperrt. Im Scheinwerferlicht der Autos vor ihm konnte er die Reflexionen der Schutzbekleidung von Polizisten erkennen, die offensichtlich der Grund für die Spurverengung waren.

„Shit“, dachte Benno, als er erkannte, dass es sich um eine Kontrolle handelte. Er überlegte. Wieviel Promille sind noch mal erlaubt? 0,5? 0,6? 0,0? Wieviel Promille mochte er wohl haben nach einem Bier und einem Kurzen? Er fühlte sich ja gut, merkte gar nichts vom Alkohol in seinem Blut. Bestimmt ist auch noch gar nichts im Blut angekommen. Vielleicht winken sie mich ja auch einfach durch.

Instinktiv machte er die Musik leiser, als er im Schritttempo auf die ersten Beamten zufuhr. Vor ihm wurden die Autos alle durchgewunken. Nun kam er an der Reihe. Die Beamtin ließ kein Zweifel daran, dass sie ihn im Visier hatte. Die Kelle war schnell draußen. Er stoppte neben der Beamtin und lies das Fenster herunterfahren. In dem Moment sagte die Beamtin zu ihm: „Bitte fahren Sie da einmal rechts auf den Parkplatz, allgemeine Verkehrskontrolle.“

Drittes Kapitel: Guten Morgen

Der Sommer war längst vorbei, an diesem Samstagmorgen konnte man schon die feuchte Kälte des Herbstes spüren, es war leicht neblig. Dieser Nebel ging direkt in eine graue, tief hängende Wolkenschicht über.

In einem Industriegebiet am Rande der Stadt standen ein paar frierende Gestalten, einige rauchend, vor einem schmucklosen Zweckbau und warteten darauf, dass sie um 8:00 Uhr hereingelassen werden.

Unter den acht Personen, die sich dort rumdrückten, waren auch Benno und Charlotte. Eigentlich wollten sie beide nicht hier sein, keiner wollte hier sein, aber von Bekannten wurde ihnen empfohlen, dass dieser Wochenendkurs eine sehr gute Investition ihrer Zeit war.

Als sich endlich die Tür öffnete und die Teilnehmenden mit einem lauten und motivierten „Guten Morgen!" begrüßt wurden, trotteten die Personen unmotiviert auf die ihnen aufgehaltene Tür zu und verschwanden im Gebäude.

Der Raum, den sie durch einen kleinen Korridor betraten, war spartanisch eingerichtet. Wie in einer Schulklasse waren Tische in Reihen angeordnet, ausgerichtet mit dem Blick nach vorne, auf eine Reihe von Whiteboards. Das mittlere Whiteboard wurde von einem Beamer bestrahlt, auf dem „Willkommen zum Vorbereitungskurs auf die Medizinisch Psychologische Untersuchung (MPU)“, darunter ein Comicbild, das ein Auto im Schlingerkurs zeigte, aus dem ein an Werner erinnerndes Männchen aus der Seite herausschaute.

„Na, das kann ja heiter werden“, dachte sich Charlotte und suchte sich einen Platz in der dritten Reihe an der Seite.

„Nee, nee, nee, wir sind hier nicht in der Schule, bitte alle nach vorne kommen, ich beiße nicht“, kam eine motivierte Stimme von hinten. Charlotte rollte innerlich und vielleicht auch äußerlich mit den Augen, nahm ihre Jacke, die sie schon über den Stuhl gehängt hatte, und steuerte auf die allererste Reihe zu. Wenigstens ganz an der Seite.

Bevor sie sich auf ihren Platz setzte, schaute sich Charlotte um und betrachtete die anderen Teilnehmenden, alle ausschließlich männlich, keine Überraschung.

Bennos Plan war eigentlich auch gewesen, so weit wie möglich hinten zu sitzen, jetzt schlenderte er aber die Reihen nach vorne und visierte den Platz neben Charlotte an. Er warf seinen zusammengerollten Collegeblock und den Stift auf den Tisch, nuschelte „Morgen“ in Richtung von Charlotte und ließ sich auf den Stuhl fallen. Für sein Gefühl war das hier erstens alles viel zu früh und zweitens überhaupt nicht notwendig.

Hinter Benno und Charlotte scharrten die Stühle über den Boden, die Tür wurde geschlossen und ihr offensichtlich übermotivierter Lehrer lief durch die Reihen nach vorne zu seinem Pult, auf dem ein Laptop aufgebaut war und ein paar Unterlagen gestapelt lagen. Grinsend schaute ihr Lehrer mit Händen in die Hüfte gestemmt in die Runde und sagte viel zu laut für diese Uhrzeit: „Guten Morgen noch einmal. Ich bin Carlos und ihr habt dieses Wochenende das Vergnügen mit mir!“, vereinzelt wurde mit einem langgezogenen, leisen „Moooorgen“ geantwortet.

„Ah, ich liebe diese Energie“, rief Carlos in die Runde, „aber wir werden uns alle noch lieben lernen an diesem Wochenende, oder wolltet ihr woanders sein?“. Sein Grinsen wurde noch breiter.

Er nahm ein Clipboard von seinem Pult und lief Richtung Charlotte: „Ich möchte euch bitten, die Anwesenheitsliste zu unterschreiben. Bei dir weiß ich ja schon, wer du bist, Frau von-und-zu“, er legte das Clipboard grinsend vor Charlotte auf den Tisch.

„Einfach bitte neben dem Namen unterschreiben und dann weitergeben, ok?“, Charlotte nickte, fand ihren Namen auf der Liste und unterschrieb auf der Linie neben ihrem Namen. Sie wendete sich nach links um, das Clipboard weiterzugeben, Benno war aber mit seinem Handy beschäftigt und bemerkte Charlotte gar nicht. Erst als Charlotte das Clipboard in Bennos Oberarm piekte, zuckte Benno zusammen, schaute irritiert von seinem Handy auf und Charlotte an. Dann verstand er, was er zu tun hatte, setzte ein kleines, entschuldigendes Lächeln auf, nahm das Clipboard und suchte darauf seinen Namen. Als er mit seinem Stift versuchte zu unterschreiben, bemerkte er, dass der Kugelschreiber den er eingepackt hatte völlig eingetrocknet war. Er beugte sich zu Charlotte und flüsterte: „Tschuldigung, kann ich mal deinen Stift haben?“. Charlotte nickte und reichte ihm ihren Kugelschreiber, woraufhin Benno auf der Liste unterschrieb und das Brett weiterreichte.

Während das Brett seinen Weg durch die Reihen machte, sagte Carlos in die Runde: „Da wir das ganze Wochenende hier miteinander verbringen werden und ich kein Freund von schweigsamen Gruppen bin, würde ich gerne, dass wir uns alle einmal kurz vorstellen. Es ist ja kein Geheimnis, wieso ihr alle hier seid. Ihr wollt euren Führerschein wieder haben und das bekommen wir auch alle gemeinsam ganz bestimmt hin. Ein paar von euch sind ja schon sowas wie Stammgäste hier“, dabei nickte er einem Teilnehmenden in der zweiten Reihe zu, der die direkte Ansprache mit einem verqueren Lächeln quittierte.

„Fangen wir doch hier vorne links bitte mit der Vorstellungsrunde an. Also, bitte Name und was du verbrochen hast, um hier zu sein“, sagte Carlos und nickte dabei motivierend in Charlottes Richtung.

So langsam mochte Charlotte diesen Carlos, vielleicht werden die kommenden zwei Tage doch nicht so schlimm.

„Ja, hallo“, sagte Charlotte. „Mein Name ist Charlotte und ich wurde angehalten, weil ich am Handy war. Leider hatte ich vorher ein bisschen zu viel Weißweinschorle mit meinen Mädels getrunken und deswegen bin ich meinen Führerschein losgeworden und muss jetzt zur MPU.“

Carlos nickte ihr zu und sagte: „Ja, dann bist du hier genau richtig.“

Er wandte seinen Kopf zu Benno und nickte ihm aufmunternd zu.

„Hallo, ich bin Benno und ich hab auch zu viel getrunken und wurde dabei erwischt“, sagte Benno knapp.

„Magst du uns auch verraten, wie viel Promille bei dir festgestellt wurden?“

„0,5 Promille“, antwortete Benno.

„Und wie viel hast du getrunken, um dieses Level zu erreichen?“, bohrte Carlos nach.

„Ein Bier und einen Kurzen“

„Und du, äh, Charlotte?“, fragte Carlos.

„Zwei Weißweinschorlen. Ich weiß aber nicht mehr, wie viele Promille bei mir festgestellt wurden, muss auch irgendwie bei 0,5 gewesen sein, glaube ich“, antwortete Charlotte.

„Ja, da seht ihr, wie wenig schon reichen kann, um über die gesetzliche Grenze zu kommen. Na gut, machen wir weiter“, sagte Carlos und nickte dem nächsten Teilnehmenden zu.

Viertes Kapitel: Und was machst du sonst so?

Der Vormittag ging schneller vorbei als gedacht. Carlos war ein guter Lehrer. Er wusste, worauf es bei der MPU ankam und wusste auch, wie er das vermitteln konnte, ohne die Teilnehmenden an seinem Seminar an den Pranger zu stellen. Letztendlich warb er auch mit einer Geld-zurück-Garantie, wenn man nach absolvierter Vorbereitung die eigentliche MPU nicht bestehen würde.

Um kurz vor dreizehn Uhr blickte Carlos auf die Uhr an der Wand und sagte: „Gut, ich denke, das reicht und ihr habt euch eure Mittagspause verdient. Lasst uns hier wieder um viertel nach zwei treffen. Wisst ihr schon, wo ihr hingeht? Habt ihr etwas mit? Hier raus und dann rechts, ein bisschen die Straße entlang ist ein McDonald's und ein Subway's. Ihr könnt eure Sachen gerne hier im Raum lassen, ich werde hinter euch abschließen."

Mit diesen Worten wurde es unruhig im Raum, die Stühle wurden geräuschvoll nach hinten geschoben. Carlos hatte das Programm nur mit einer kurzen Pinkelpausenunterbrechung straff durchgezogen. Charlotte fühlte, wie ihre Blase drückte, und sie verließ den Raum und ging den Flur nach links entlang zu den Toiletten, während die anderen Teilnehmer das Gebäude bereits durch die Eingangstür verließen und einige sich schnell eine Zigarette ansteckten.

Benno blieb noch auf seinem Platz sitzen, er hatte mehrere Nachrichten auf sein Handy bekommen, die er jetzt durchging. Die erste Herrenmannschaft des ASV Brückenfeld reiste heute zu einem Wochenendturnier. Seit ihrem Aufstieg gab es sehr viel mehr überregionale Spiele. Bilder aus dem Reisebus von der Autobahn erreichten Benno, das Team dachte an ihn, in ihrer liebevollen, aber derben Art. Er las: „Ey, wir sammeln schon für dein neues Fahrrad. Inklusive Bierhalter am Lenker.“, „MPU heißt ja wohl: Mit Promille unterwegs, oder was war nochmal dein Spezialgebiet?“ und „Bruder, gib Gas beim Kurs – aber diesmal nicht mit 1,5 Promille auf’m E-Roller.“ - Benno musste schmunzeln. Auch seine Freundin schrieb ihm. Seit seiner Zusammenkunft mit der Polizei an jenem Abend war es schwierig bei den zwei geworden, besonders weil ihre Eltern nicht fanden, dass Benno ein guter Umgang für ihre Tochter war.

„So, jetzt aber raus mit dir“, unterbrach Carlos seine Gedanken, „ich möchte abschließen.“ Benno nickte, zog seine Jacke an und ging zum Ausgang.

Als er gerade auf den Flur heraustreten wollte, stieß er fast mit Charlotte zusammen, die den Flur in Richtung der Ausgangstür entlangstiefelte. Beide blieben abrupt stehen und schauten sich überrascht an. Benno machte eine Handbewegung nach rechts und sagte: „Nach dir.“ „Danke“, erwiderte Charlotte und ging voran in Richtung Ausgangstür.

Als sie beide die Kühle Außenluft erreichten, stellten sie fest, dass die anderen Teilnehmenden schon einen ziemlichen Vorsprung auf dem Weg zu den Fastfood-Restaurants hatten. „Sollen wir hinterher gehen?“, fragte Benno. Charlotte schüttelte den Kopf und deutete auf eine Plastikdose, die sie in der Hand hielt. „Ich habe etwas mit, ich wollte mich auf irgendeine Bank setzen.», erwiderte sie. „Wenn du magst, kannst du dich dazu setzen, aber du kannst natürlich auch gerne zu McDo gehen und ich sitze alleine auf der Bank.», schob sie hinterher. „Nee, ich glaub, ich setz mich zu dir auf die Bank, ich kann etwas Ruhe gebrauchen. Normalerweise esse ich auch mittags nie was“, sagte Benno.

Die beiden blickten sich um auf der Suche nach einer einladenden Bank. Charlotte deutete auf die Seite des Gebäudes und sagte: „Sieht so aus, als wären da drüben so eine Art Picknick-Area!“. „Ja, das sieht richtig einladend aus“, sagte Benno mit einem ironischen Tonfall, zuckte mit den Schultern und orientierte sich in Richtung der Picknickbänke und ging Charlotte hinterher, die schon auf dem Weg war.

Als sie sich gegenüber voneinander hinsetzten, zog Benno eine Dose eines Energy-Drinks aus seiner Jackentasche und ließ sie beim Aufmachen zischen. Währenddessen öffnete Charlotte ihre Plastikdose, darin enthalten war ein Linsensalat sowie ein paar Stücke Fladenbrot.

„Du hast ja doch was mit“, witzelte Charlotte.

„Ja, gut, das eben. Sonst schlaf ich ein.», antwortete Benno grinsend und kippte etwas von dem süß-sauren Getränk in den Mund.

„Wenn du willst, kannst du auch ein Stück Brot haben, ist mir eigentlich zu viel“, sagte Charlotte.

Benno grinste sie an und sagte: „Ja, ok“, woraufhin Charlotte ihm ein Stück Brot reichte, das er dankbar annahm.

„So, jetzt erzähl mal genau, wieso du hier bist. Besoffen am Steuer erwischt, so wie ich, richtig?“, fragte Charlotte.

„Ja, meine Güte, also besoffen würde ich das nicht nennen. Ich hatte halt ein Bier und einen Kurzen. Mir ging es noch total gut. Aber na ja, haben sie halt bei so einer mobilen Kontrolle im Blut festgestellt. Ich kam gerade vom Training, wollte zu meiner Freundin fahren.“

„Tja, dumm gelaufen“, lachte Charlotte. „Bei mir war es ähnlich. Ich hab mit ein paar Freundinnen gefeiert. Na ja, nee, so kann man es nicht nennen. Wir haben zusammen Sushi gegessen und ich hab eine Weißweinschorle dabei getrunken. Und dann haben sie mich angehalten, weil sie gesehen haben, wie ich am Handy war. Na ja, und dann kam eins zum anderen. Auch mit Blutabnahme auf dem Revier und so. Ich hab noch Widerspruch eingelegt, aber unser Anwalt hat gesagt, da kann man nichts machen.», Charlotte zuckte mit den Schultern und fragte: „Hast du das Ergebnis angefochten?“

„Nein, nee“, antwortete Benno kauend. Er war doch froh über das Stück Fladenbrot, das ihm Charlotte gereicht hatte.

„Willst du noch eins?“, fragte Charlotte mit einem Lächeln, als sie sah, wie gierig Benno das Stück verschlungen hatte.

„Ja, ok, gerne, wenn du nicht willst“, antwortete Benno lächelnd.

„Nein, kein Problem“, sagte Charlotte und reichte ihm ein weiteres Stück.

„Und was machst du sonst so?“, fragte Charlotte, „Wenn du gerade nicht hier bist?“, schob sie lachend hinterher.

„Ich bin Mechatroniker bei der Bahn“, antwortete Benno.

„Oh, spannend, was machst du da den ganzen Tag so?“

„Ich…“, fing Benno an, seine Hand verdeckte seinen Mund, er versuchte, den Bissen, den er gerade noch im Mund hatte, zu zerkleinern und runterzuschlucken. „Ich bin hauptsächlich für die Programmierung der Bordsysteme der Antriebswagen zuständig.“

„Also von den Loks? Was muss denn dort programmiert werden?“

„Alles mögliche“, antwortete Benno. „Das sind ja komplexe Systeme, diese Antriebswagen. Wenn man da einen Hebel umlegt, dann passiert da nichts mehr ohne die Software-Steuerung, ist ganz schön komplex. Immer funktioniert was nicht so, wie es sollte, dann werden wir gerufen und müssen den Fehler finden.“

„Also, wegen dir kommt die Bahn immer zu spät?“, witzelte Charlotte, „dann weiß ich jetzt ja, bei wem ich anrufen muss.“

„Wow, den Witz habe ich ja noch nie gehört“, antwortete Benno in einem ironisch-sarkastischen Unterton. Beide lachten, das Eis war gebrochen.

„Und was machst du?“, fragte Benno und stellte seine nächste Frage gleich hinterher: „Und wieso hat er dich ‚Frau von-und-zu‘ genannt?“.

„Also, das waren jetzt zwei Fragen. Ich bin Portfolio-Managerin. Also, Junior-Portfolio-Managerin, um genau zu sein, ich arbeite erst seit ein paar Monaten in dem Job. Und warum er mich Frau von-und-zu genannt hat… na ja, ich habe eben ein ‚von‘ im Namen. Aber kein ‚zu‘, darauf lege ich Wert!“, lachte Charlotte.

„Aha, ok. Davon habe ich jetzt mal so gar nichts verstanden. Also außer, dass du adlig bist. Wie heißt du denn?“

„Charlotte“

„Haha, ja, das weiß ich schon! Nein, ich meine mit Nachnamen?“

„Von Wörther“

„Von Wörter, also wie die Wörter?“, fragte Benno.

„Nein, mit ‚h‘, Wöööhrter“, betonte Charlotte ihren Nachnamen.

„Aber das ‚von‘ nicht vergessen“, witzelte Benno, „Von Wörther, mit ‚h‘ bitte“, sagte er mit einer gespielt arroganten Stimme. Beide mussten lachen.

„Hä und, Junior, was genau?“, fragte Benno.

„Junior Portfolio Managerin“

„Aha, und was machst du den ganzen Tag?“

„Ich verwalte das Geld von anderen Leuten, lege es an und versuche es zu vermehren“, erklärte Charlotte.

„Ah cool, dann kann ich dir also mein Geld geben und du machst daraus mehr?“, fragte Benno ungläubig.

„Schätzelein, also bevor du mir nicht mindestens eine halbe Million Euro gibst, kann ich damit nichts anfangen, mit kleinen Beträgen kann man nix reißen“, antwortete Charlotte mit einer gespielten Überheblichkeit.

„Nee, echt jetzt?“, fragte Benno.

„Ja, schon. Man muss das Geld eben streuen, damit es nicht so anfällig für Krisen ist. Und mit nur ein paar tausend geht das nicht“, antwortete Charlotte.

„Ein paar tausend. Nee, ist klar“, lachte Benno und schob hinterher: „Echt jetzt?“. „Ja, wirklich, das mache ich“, antwortete Charlotte und nickte ihm mit einer professionellen Freundlichkeit zu.

„Das ist krass, wow“, nickte Benno nachdenklich. Als er seine Gedanken wieder eingefangen hatte, sagte er: „Hätte nicht gedacht, dass so Leute wie du hier auftauchen und sowas machen müssen.“

„Was soll das denn heißen?“, fragte Charlotte in einem gespielt pikierten Ton. „Auch unsereins fährt Auto, auf den gleichen Straßen wie du. Und auch ich will halt manchmal etwas Spaß haben und trinke dann etwas und fahre dann Auto.“

„Na ja,“ grinste Benno, „ich ging eben davon aus, dass ihr von-und-zus eure Chauffeure habt“. Charlotte setzte ein gespielt mucksches Gesicht auf, verschränkte die Arme und schaute ihn an. Beide mussten lachen.

Charlottes Linsensalat war alle, Bennos Energydrink war auch so gut wie leer. „Wollen wir noch eine Runde spazieren gehen, bevor es wieder losgeht?“, fragte Charlotte. Benno nickte und erhob sich. Charlotte schloss ihre Plastikdose und erhob sich ebenfalls vom Tisch, Seite an Seite fingen sie an, in Richtung Straße zu schlendern und sich dabei fröhlich weiterzuunterhalten.

Fünftes Kapitel: Tschau

Sonntag Nachmittag, die Sonne stand schon tief, ebenso war die Konzentration der Teilnehmenden auf einem Tiefpunkt angekommen.

Carlos versuchte alles, um seinen abschließenden Worten motivierend und energievoll rüberzubringen, aber auch er war am Ende seiner Kräfte und freute sich auf das nahe Ende des Kurses.

„Ihr wisst jetzt alles, was ihr wissen müsst, bevor ihr in das Gespräch der medizinisch-psychologischen Untersuchung geht. Gibt es von eurer Seite noch Fragen? Das hier ist eure letzte Chance.», Carlos Frage wurde mit Still beantwortet. Charlotte und Benno warfen sich vielsagende Blicke zu, er krickelte auf seinem Block herum, heute hatte er daran gedacht, einen funktionierenden Stift mitzubringen. Charlotte rollte leicht mit den Augen und richtete dann ihren Blick erwartungsvoll auf Carlos.

„Nein, keine Fragen mehr“, sagte sie laut und deutlich, in der Hoffnung, die Wartestille zu unterbrechen und schneller aus dem Gebäude zu kommen. „Vielen Dank, Frau von Charlotte, dass Sie den Kurs für mich beenden!“, sagte Carlos mit einem Augenzwinkern zu Charlotte. „Dann wünsche ich euch allen viel Erfolg, ich hoffe, wir sehen uns nicht wieder!“, beendete Carlos den Kurs und klatschte dabei in die Hände. Augenblicklich wich die Lethargie aus den Teilnehmenden, sie sprangen auf und das allgemeine Gemurmel und Geschirre der Stühle wurde lauter.

Auch Charlotte und Benno standen von ihren Stühlen auf und sammelten langsam ihre Habseligkeiten ein. Sie hatten in den letzten beiden Tagen gemerkt, wie sehr sie auf einer Wellenlänge miteinander sind, das Ende des Kurses bedeutete auch, dass sie sich nun entscheiden mussten, wie es mit ihnen weitergeht. Langsam trotteten sie hinter den anderen Teilnehmenden hinterher, Charlotte drehte sich noch einmal zu Carlos um, winkte und sagte: „Tschüss, Carlos und danke dir!“, „Bitte, gern geschehen“, antwortete Carlos, lächelte und hob die Hand und deutete ein Winken an.

Vor dem Gebäude blieben Charlotte und Benno stehen, etwas unschlüssig schauten sich beide um.

„Ah, da ist mein Freund, der holt mich ab“, sagte Charlotte und deutete auf einen schwarzen BMW 3er, der auf dem Parkplatz stand, ein junger Mann saß hinter dem Steuer und schaute offensichtlich auf sein Handy.

„Cooles Auto“, sagte Benno, „Ist das der 3er Touring?“, fragte er. Charlotte schaute ihn belustigt und mit gespielter Entgeisterung an: „Also, so gut solltest du mich jetzt schon kennen, dass du wissen solltest, dass ich keine Ahnung davon habe. Ist ein BMW und er ist stolz drauf. Mehr weiß ich darüber nicht.», antwortete Charlotte. „Ja, ja, schon gut, klar hast du keine Ahnung davon“, entgegnete Benno mit einem breiten Grinsen. Kurz kam in ihm das leise Gefühl auf, dass er Charlotte vermissen würde. Mit ihr war es unkompliziert zu reden und Scherze zu machen.

„Sollen wir dich irgendwohin mitnehmen?“, fragte Charlotte.

„Nee, nee, alles gut, ich nehm den Bus, den Weg kenn ich ja schon.», sagte Benno. Er war etwas froh darüber, dass seine Freundin heute arbeitete und ihn nicht abholen konnte.

Charlotte schaute etwas verlegen auf ihr Handy, jetzt hatte ihr Freund sie auch bemerkt und stieg aus dem Wagen aus und machte sich auf den Weg, ihr entgegenzugehen. „Ja gut, dann eben nicht, fahr halt mit deiner Öffi-Gondel“, versuchte Charlotte, die Stimmung zwischen ihnen zu retten, die mit jedem Schritt, den ihr Freund näher kam, etwas gräulicher wurde.

In dem Moment, als Charlottes Freund die beiden erreichte, seine Freundin in den Arm nahm, ihr einen Kuss auf die Schläfe drückte und „Na?“ fragte, sagte Benno: „Ok, dann schönen Sonntag noch.“

„Danke, dir auch!“, antwortete Charlotte. „War lustig mit dir in der ersten Reihe!“, schob sie hinterher. Benno grinste sie schief an, wandte sich zum Gehen und sagte: „Ja, fand ich auch.“

„Schreib mir dann mal, wenn du deinen Termin hattest!“, sagte Charlotte, Benno hatte sich inzwischen ein paar Schritte von ihr entfernt, drehte sich um, machte eine selbstverständliche Geste und sagte: „Klar, du aber auch, wenn du vorher dran bist.“

„Tschüß“, Charlotte winkte ihm.

„Tschau“, sagte Benno und machte dabei den Hochnick-Gruß, lächelte sie ein letztes Mal an, wandte sich ab, ging vom Parkplatz und steuerte die nah gelegene Bushaltestelle an, bei der auch schon ein paar andere Teilnehmende ihres Kurses warteten.

„Wer war das denn?“, fragte Charlottes Freund, als sie beide Benno hintererblickten.

„Ach, so ein Typ, der mit mir im Kurs in der ersten Reihe saß. Er hat das Gleiche verbrochen wie ich.“

Die unsichtbare Grenze.
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Veröffentlicht: Mai 2025