Working for the Knife

Mitski war ausgelaugt. Die letzten drei Wochen waren geprägt von intensiven Planungen für das zweite Quartal des Jahres. Sie hatte gemeinsam mit ihrem Team die OKRs geplant, die in Einklang mit den Abteilungs- und Unternehmenszielen waren. Outcome versus Output. Sie hatte etwas gebraucht, um den Unterschied zu verstehen. Jetzt las es sich alles flüssig, die Erwartungen, was am Ende des zweiten Quartals stehen sollte, waren klar, alles war messbar und schien auch einigermaßen machbar für Mitski und ihr Team zu sein.

Ruhig und zufrieden lehnte sie sich in ihrem Bürostuhl zurück und betrachtete die finale Version der Planung, die sie von ihrem Bildschirm aus anleuchtete. Sie konnte die zusätzlichen Anstrengungen, neben dem Tagesgeschäft der letzten Wochen in ihrem Körper spüren. Ihre Augen brannten vom permanenten Blick auf den Bildschirm, ihr unterer Rücken fühlte sich belastet an vom vielen Sitzen. Zu Zeiten des normalen Wahnsinns ging sie mindestens einmal die Woche ins Fitnessstudio und machte extra für diesen Teil ihres Körpers Übungen am Roman Chair. Sie merkte, dass sie die regelmäßigen Übungen schon lange nicht mehr gemacht hatte. Auch ihre Handgelenke schmerzten vom vielen Tippen und dem Hin- und Herschieben der Maus. Mitski nahm sich vor, ihre regelmäßigen Besuche im Fitnessstudio wieder zur Priorität in ihrem Privatleben zu machen. Keine Ausrede mehr – schon gar nicht die, sie sei zu geschlaucht von der Arbeit.

Erschöpft, aber zufrieden, erlaubte sie sich, ihren Blick schweifen zu lassen und betrachtete die Mitglieder ihres vierköpfigen Teams, für die sie verantwortlich war. Alle waren engagiert und beschäftigt, entweder in Calls oder vertieft in die Arbeit. Alles für das Wohl der zahlenden Kundschaft, damit diese noch zielgenauer ihre Werbung an die potentielle Kundschaft über diverse Kanäle ausspielen können. Mitski hatte hart gearbeitet, um dort anzukommen, wo sie jetzt is, als Teamleiterin in einer mittelgroßen Agentur, die vor einigen Jahren von einem größeren Unternehmen aufgekauft wurde. Seit fast zwei Jahren hatte sie diese Position inne, es war damals ein großer Sprung für sie gewesen, als sie in diese Agentur wechselte. Vorher hatte sie nur in kleineren, lokalen Agenturen gearbeitet, nun konnte sie schon die große Corporate Welt riechen und betrachtete ihren aktuellen Karriereschritt als einen notwendigen Zwischenschritt, um die noch größere Bühne zu betreten.

Mitski schaute sich in dem schönen Großraumbüro um, das dazu einlud, lange Abende dort zu verbringen – es mangelte an nichts. Sie nahm sich Zeit, ihre einzelnen Teammitglieder zu beobachten.

Sven war wie immer voller Energie. Laut hackte er mit seinem Zwei-Finger-Suchsystem auf die Tasten seines mechanischen Keyboards ein. Er war sehr stolz darauf, die Lautstärke hatte allerdings schon öfter im Team für Diskussionen gesorgt. Letztendlich hatte aber jeder aus dem Team eine kleine Macke und sie mochten sich - auch über die Arbeit hinaus. Daher wurden solche Kleinigkeiten mild betrachtet und weggelächelt. Sven war ein feiner Mensch, der immer gute Arbeit ablieferte und eine Bereicherung in jeder Diskussion war. Ihr Blick glitt weiter zu Juliet. Die Halb-Brasilianerin hieß eigentlich anders, unternahm aber immer wieder Anstrengungen, den Namen Juliet für sich durchzusetzen. Besonders schwierig war dies, weil die HR IT-Systeme in regelmäßigen Abständen immer wieder ihren bürgerlichen Namen in die Systeme kopierten und der Kampf für „Juliet“ aufs Neue startete. Als Juliet Mitskis Blick bemerkte, zwinkerte sie Mitski mit einem Auge zu und widmete sich dann wieder ihrem Meeting mit einer Kundin. Juliet hatte eine besondere Ausstrahlung und ihre laute und fröhliche Art kam bei der Kundschaft und jedem im Team gut an. Mitskis Blick wanderte weiter. Johannes hatte sich gerade einen neuen Kaffee geholt und sich wieder an seinen Platz gesetzt. Konzentriert schaute er auf seinen Bildschirm, die Tasse in beiden Händen und leicht drüber pustend, bevor er einen kleinen Schluck abschlürfte, das Gesicht verzog und den offensichtlich sehr heißen Kaffee erst einmal zur Seite stellte, um sich wieder nach vorne zu beugen und etwas auf seinem Bildschirm mit der Maus zu bearbeiten.

Gesas Platz war leer. Zum wiederholten Mal hatte sich Gesa kurzfristig krank gemeldet. Natürlich konnte Mitski nichts dazu sagen, wenn man krank war, dann war man krank und sollte sich schonen und zu Hause bleiben. Aber bei jedem kleinen Zipperlein zu Hause bleiben, diese Einstellung konnte Mitski nicht nachvollziehen. Aber das war eine Diskussion, die sie mit Gesa ein anderes Mal vorsichtig führen musste – eines ihrer „learning fields“ in der neuen Rolle als Teamleiterin.

Mitskis Blick schweifte weiter zum großen Fenster, welches den Blick auf die Kreuzung vor ihrem Gebäude frei gab. Aus dem dritten Stock hatte man genau die richtige Distanz, um Leute auf der Straße ungeniert anzuschauen und gleichzeitig nahe genug dran, um noch Details erkennen zu können. Mitski stand auf, ging zum Fenster und stellte sich mit verschränkten Armen davor und schaute die Leute auf der Straße an, die dort auf dem Bürgersteig gingen. Es war früher Nachmittag, einige kamen sicher von einer späten Mittagspause zurück in die Büros der Umgebung, ein paar Touristen dazwischen und natürlich auch ein paar Rentner. Hier hatte sie in den vergangenen Wochen oft gestanden und die Welt draußen betrachtet, die an ihr vorbei zog, während sie hier drinnen an ihrer Arbeit tüftelte. Sie brauchte und liebte dieses Starren nach draußen, um ihre Gedanken zu sortieren.

Auf der anderen Straßenseite, an der Bushaltestelle gegenüber, hielt gerade ein kleiner Transporter und zwei Männer in blauen Overalls stiegen aus. Routiniert fing der eine an, die Werbefläche der Bushaltestelle zu öffnen, der andere machte sich an den hinteren Türen des kleinen Transporters zu schaffen und förderte eine Rolle zu Tage. Offensichtlich war es Zeit, dass die alte Werbung wegkam und durch neue ersetzt wurde. Im Grunde waren die beiden Männer da draußen Mitskis Kollegen.

Mit routinierten Griffen verschwand die alte Werbung für eine Getränkemarke, die dort seit einer Woche hing, und eine neue Rolle wurde oben eingeklinkt und nach unten ausgerollt. Anschließend wurde die Werbefläche wieder zugeklappt und verschlossen, die beiden Männer verstauten die ausgediente Werbung der letzten Woche, stiegen in ihren Transporter und fuhren davon. Mitski schaute dem Transporter hinterher, wie er noch schnell über die von Grün auf Orange wechselnde Ampel davon fuhr. Ihr Blick ging aus professionellem Interesse zurück zur Werbefläche der Bushaltestelle, um zu schauen, ob dort zufällig Werbung hängt, die aus den Händen von irgendwem aus ihrem Kundenkreis kommt. Fehlanzeige.

Was Mitski stattdessen ins Auge fiel, waren zwei traurige Kinderaugen, die zu einem Kind gehörten, das ärmlich aussah, in Winterklamotten eingepackt war und vor einem völlig zerstörten Haus inmitten eines Trümmerfeldes stand. Prominent im Hintergrund zu sehen: die ukrainische Flagge. In großen Lettern zu den Füßen des Mädchens die IBAN eines Spendenkontos und das bekannte Logo einer Hilfsorganisation. Dazu ein kurzer, prägnanter Text, der vorbeieilende Menschen dazu aufforderte, den Menschen im Krieg zu helfen. Soweit so normal.

Mitski hielt inne, etwas in ihr konnte die Augen nicht von dem Mädchen auf dem Foto nehmen. Sie wusste nicht genau, was es war, sie kannte das Mädchen. Mitski legte den Kopf etwas zur Seite, runzelte die Stirn und betrachtete das traurige Mädchen auf dem Foto weiter. Plötzlich wusste sie, woher sie das Mädchen kannte. Ruckartig wandte sie sich vom Fenster ab, lief zügig zurück zu ihrem Platz, ihre hochhackigen Schuhe machten ein schnelles „nock nock nock“ auf dem Parkett. Die Teammitglieder blickten von ihrer Arbeit auf, sie spürten, dass hier gerade etwas passierte. Alle Augen waren auf sie gerichtet. Nervös, weil sie ihr Team gestört hatte und alle sie nun im Blick hatten, fing Mitski an, sich durch die Ordner auf ihrem Laptop zu klicken, bis sie fand, was sie suchte. Die Kampagne, an der sie gearbeitet hatte, Werbung für Kindershampoo, das nicht in den Augen brennt. Sie öffnete den Ordner und doppelklickte auf das erste Bild. Es öffnete sich und von ihrem großen Monitor strahlte ihr das Mädchen von der Bushaltestellenwerbung entgegen. Das Mädchen guckte keck aus der Badewanne heraus, mit einer Schaumkrone auf dem Kopf. Mitski sank in ihren Stuhl zurück. Ein leichtes Zittern breitete sich in ihrem Körper aus. Es entstand in den Tiefen ihrer Augenhöhlen und dehnte sich von dort in den ganzen Körper aus. Dann wich alle Spannung aus ihren Muskeln. Sie betrachtete das Bild lange und eindringlich, erschöpft bis in die letzte Faser ihres Seins. Kopfschüttelnd ließ sie ihren Blick von einem Teammitglied zum nächsten wandern. Jeder ihrer Blicke wurde nur kurz erwidert – dann senkten sich die Blicke wieder zu Tastaturen und Bildschirmen. Mitskis Lippen bewegten sich leicht. „Was mache ich hier eigentlich?“

Mitski blickt bestürzt auf ihren Computer.

Aliyah war ausgelaugt. Die letzten beiden Wochen waren geprägt von intensiven Planungen für das zweite Quartal des Jahres. Sie hatte für und gemeinsam mit ihrem Team die OKRs geplant, die in Einklang mit den Abteilungs- und Unternehmenszielen waren. Endlich ließ es sich alles flüssig, die Erwartungen, was am Ende des zweiten Quartals stehen sollte, waren klar, alles war messbar und schien auch einigermaßen machbar für Aliyah und ihr Team zu sein.

Ruhig und zufrieden lehnte sie sich in ihrem Bürostuhl zurück und betrachtete die finale Version der Planung, die sie von ihrem Bildschirm aus anleuchtete. Erschöpft erlaubte sie sich, ihren Blick schweifen zu lassen und betrachtete die Mitglieder ihres fünfköpfigen Teams, für die sie verantwortlich war. Alle waren engagiert und beschäftigt, entweder in Calls mit der Kundschaft oder vertieft in die Arbeit. Alles für das Wohl der Kundschaft, damit diese noch zielgenauer ihre Werbung an die potentielle Kundschaft über diverse Kanäle ausspielen können. Aliyah hatte hart gearbeitet, um dort anzukommen, wo sie jetzt is, als Teamleiterin in einem mittelständischen Unternehmen. Seit fast zwei Jahren hatte sie diese Position inne, es war damals ein großer Sprung für sie gewesen, als sie in dieses Unternehmen wechselte. Vorher hatte sie nur in kleinen Agenturen gearbeitet, nun konnte sie schon die große Corporate Welt riechen und betrachtete ihren aktuellen Karriereschritt als einen notwendigen Zwischenschritt, um die noch größere Bühne zu betreten.

Aliyah schaute sich in dem schönen Großraumbüro um, das dazu einlud, lange Abende dort zu verbringen – es mangelte an nichts. Sie nahm sich die Zeit, ihre einzelnen Teammitglieder zu beobachten.

Sven war wie immer voller Energie. Laut hackte er mit seinem Zwei-Finger-Suchsystem auf die Tasten seines mechanischen Keyboards ein. Er war sehr stolz darauf, die Lautstärke hatte allerdings schon öfter im Team für Diskussionen gesorgt. Letztendlich hatte aber jeder aus dem Team eine kleine Macke und sie mochten sich alle, nicht nur als Kolleginnen und Kollegen. Daher wurden solche Kleinigkeiten mild betrachtet und weggelächelt. Sven war ein feiner Mensch, der immer gute Arbeit ablieferte und eine Bereicherung in jeder Diskussion war. Aliyahs Blick wanderte weiter zu Juliet. Die Halb-Brasilianerin hieß eigentlich anders, unternahm aber immer wieder Anstrengungen, den Namen Juliet für sich durchzusetzen. Besonders schwierig war dies, weil die HR IT-Systeme in regelmäßigen Abständen immer wieder ihren bürgerlichen Namen in die Systeme kopierten und der Kampf für „Juliet“ aufs Neue startete. Als Juliet Aliyahs Blick bemerkte, zwinkerte sie Aliyah mit einem Auge zu und widmete sich dann wieder ihrem Meeting mit einer Kundin. Juliet hatte eine besondere Ausstrahlung und ihre laute und fröhliche Art kam bei der Kundschaft und jedem im Team gut an. Aliyahs Blick wanderte weiter. Johannes hatte sich gerade einen neuen Kaffee geholt und sich wieder an seinen Platz gesetzt. Konzentriert schaute er auf seinen Bildschirm, die Tasse in beiden Händen und leicht drüber pustend, bevor er einen kleinen Schluck abschlürfte, das Gesicht verzog und den offensichtlich sehr heißen Kaffee erst einmal zur Seite stellte, um sich wieder nach vorne zu beugen und etwas auf seinem Bildschirm mit der Maus zu bearbeiten.

Aliyahs Blick schweifte weiter zum großen Fenster, welches den Blick auf die Kreuzung vor ihrem Gebäude frei gab. Aus dem dritten Stock hatte man genau die richtige Distanz, um Leute auf der Straße ungeniert anzuschauen und gleichzeitig nahe genug dran, um noch Details erkennen zu können. Aliyah stand auf, ging zum Fenster und stellte sich mit verschränkten Armen davor und schaute die Leute auf der Straße an, die dort auf dem Bürgersteig gingen. Es war früher Nachmittag, einige kamen sicher von einer späten Mittagspause zurück in die Büros der Umgebung, ein paar Touristen dazwischen und natürlich auch ein paar Rentner. In diesem Stadtteil kam alles zusammen.

Auf der anderen Straßenseite, an der Bushaltestelle gegenüber, hielt gerade ein kleiner Transporter und zwei Männer in blauen Overalls stiegen aus. Routiniert fing der eine an, die Werbefläche der Bushaltestelle zu öffnen, der andere machte sich an den hinteren Türen des kleinen Transporters zu schaffen und förderte eine Rolle zu Tage. Offensichtlich war es Zeit, dass die alte Werbung wegkam und durch neue ersetzt wurde. Im Grunde waren die beiden Männer da draußen Aliyahs Kollegen.

Mit routinierten Griffen verschwand die alte Werbung für eine Getränkemarke, die dort seit einer Woche hing, und eine neue Rolle wurde oben eingeklinkt und nach unten ausgerollt. Anschließend wurde die Werbefläche wieder zugeklappt und verschlossen, die beiden Männer verstauten die ausgediente Werbung der letzten Woche, stiegen in ihren Transporter und fuhren davon. Aliyah schaute dem Transporter hinterher, wie er noch schnell über die von Grün auf Orange wechselnde Ampel davon fuhr. Ihr Blick ging aus professionellem Interesse zurück zur Werbefläche der Bushhaltestelle, um zu schauen, ob dort zufällig Werbung hängt, die aus den Händen von irgendwem aus ihrem Kundenkreis kommt. Fehlanzeige.

Was Aliyah stattdessen anblickte, waren zwei traurige Kinderaugen, die zu einem Kind gehörten, das ärmlich aussah, in Winterklamotten eingepackt war und vor einem zerstörten Haus inmitten eines Trümmerfeldes stand. Prominent im Hintergrund zu sehen: die ukrainische Flagge. In großen Lettern zu den Füßen des Mädchens die IBAN eines Spendenkontos und das bekannte Logo einer Hilfsorganisation. Soweit so normal.

Aliyah hielt inne, etwas in ihr konnte die Augen nicht von dem Mädchen auf dem Foto nehmen. Sie wusste nicht genau, was es war, sie kannte das Mädchen. Aliyah legte den Kopf etwas zur Seite, runzelte die Stirn und betrachtete das traurige Mädchen auf dem Foto weiter. Plötzlich wusste sie, woher sie das Mädchen kannte. Ruckartig wandte sie sich vom Fenster ab, lief zügig zurück zu ihrem Platz, ihre hochhackigen Schuhe machten ein schnelles „nock nock nock“ auf dem Parkett. Die Teammitglieder blickten von ihrer Arbeit auf, sie spürten, dass hier gerade etwas passierte. Alle Augen waren auf sie gerichtet. Nervös, weil sie ihr Team gestört hatte und alle sie nun im Blick hatten, fing Aliyah an, sich durch die Ordner auf ihrem Laptop zu klicken, bis sie fand, was sie suchte. Die Kampagne, an der sie gearbeitet hatte, Werbung für Kindershampoo, das nicht in den Augen brennt. Sie öffnete den Ordner und doppelklickte auf das erste Bild. Es öffnete sich und von ihrem großen Monitor strahlte ihr das Mädchen von der Bushaltestellenwerbung entgegen. Das Mädchen guckte keck aus der Badewanne heraus, mit einer Schaumkrone auf dem Kopf. Aliyah sank in ihren Stuhl zurück. Ein leichtes Zittern breitete sich in ihrem Körper aus. Es entstand in den Tiefen ihrer Augenhöhlen und breite sich von dort aus über den ganzen Körper aus. Dann wich alle Spannung aus ihren Muskeln. Sie betrachtete das Bild lange und eindringlich, erschöpft bis in die letzte Faser ihres Seins. Kopfschüttelnd ließ sie ihren Blick von einem Teammitglied zum nächsten wandern. Jeder ihrer Blicke wurde nur kurz erwidert – dann senkten sich die Blicke wieder zu Tastaturen und Bildschirme. Aliyahs Lippen bewegten sich leicht. „Was mache ich hier eigentlich?“

Aliyah blickt bestürzt auf ihren Computer.

Aliyah war erschöpft. Die letzten Wochen waren ein Marathon aus Meetings und Planungen. Sie hatte mit ihrem Team die Ziele für das nächste Quartal definiert, und endlich schien alles in greifbarer Nähe. Doch etwas nagte an ihr.

Ruhig und zufrieden lehnte sie sich in ihrem Bürostuhl zurück und betrachtete die finale Version der Planung die sie von ihrem Bildschirm aus anleuchtete. Erschöpft erlaubte sie sich ihren Blick schweifen zu lassen und betrachtete die Mitglieder ihres fünfköpfigen Teams für das sie verantwortlich war. Alle waren engagiert und beschäftigt, entweder in Besprechungen mit den Kunden, oder vertieft in die Arbeit. Alles für das Wohl der Kunden, damit diese mit der Software ihrer Firma noch zielgenauer Werbung an ihre potentielle Kundschaft über diverse Kanäle ausspielen konnte. Aliyah hatte hart gearbeitet um dort anzukommen wo sie jetzt ist, als Teamleiterin in einem mittelständischen Unternehmen. Seit fast zwei Jahren hatte sie diese Position inne, es war damals ein großer Sprung für sie gewesen als sie in dieses Unternehmen wechselte. Vorher hatte sie nur in kleinen Agenturen gearbeitet, nun konnte sie schon die große Corporate Welt riechen und betrachtete ihren aktuellen Karriereschritt als einen notwendigen Zwischenschritt um die noch größere Bühne zu betreten.

Während Aliyah sich in dem schönen, edlen und gemütlich eingerichteten Großraumbüro umsah in dem es an nichts mangelte um lange Tage dort zu verbringen, nahm sie sich die Zeit ihre einzelnen Teammitglieder zu beobachten.

Sven war wie immer voller Energie. Er hackte mit seinem Zwei-Finger-Suchsystem in die Tasten seines mechanischen Keyboards auf das er sehr stolz war. Es war ziemlich laut und hatte schon öfters für Diskussionen gesorgt. Letztendlich hat aber jeder aus dem Team eine klein Macke und sie mochten sich alle nicht nur als Kollegen. Daher wurden solche Kleinigkeiten mild betrachtet und weggelächelt, letztendlich war Sven ein feiner Kerl der immer gute Arbeit ablieferte und eine Bereicherung in jeder Diskussion war. Aliyahs Blick wanderte weiter zu Juliet. Die Halb-Brasilianerin hieß eigentlich anders, unternahm aber immer wieder Anstrengungen den Namen Juliet für sich durchzusetzen. Besonders schwierig war dies, weil die HR IT-Systeme in regelmäßigen Abständen immer wieder ihren bürgerlichen Namen in die Systeme kopierte und der Kampf für „Juliet" aufs Neue startete. Als Juliet Aliyah's Blick bemerkte, zwinkerte sie Aliyah mit einem Auge zu und widmete sich dann wieder ihrem Meeting mit einem Kunden. Juliet hatte eine besondere Ausstrahlung und ihre laute und fröhliche Art kam bei den Kunden und jedem im Team gut an. Aliyahs Blick wanderte weiter. Johannes hatte sich gerade einen neuen Kaffee geholt und sich wieder an seinen Platz gesetzt. Konzentriert schaute er auf seinen Bildschirm, die Tasse in beiden Händen und leicht drüber pustend bevor er einen kleinen Schluck abschlürfte, das Gesicht verzog und den offensichtlich sehr heißen Kaffee erst einmal zur Seite stellte, um sich wieder nach vorne zu beugen und etwas auf seinem Bildschirm mit der Maus zu bearbeiten.

Aliyahs Blick schweifte weiter zum großen Fenster welches den Blick auf die Kreuzung vor ihrem Gebäude frei gab. Aus dem dritten Stock hatte man genau die richtige Distanz um Leute auf der Straße ungeniert anzuschauen und gleichzeitig nahe genug dran um noch Details erkennen zu können. Aliyah stand auf, ging zum Fenster und stellte sich mit verschränkten Armen davor und schaute die Leute auf der Straße an die dort auf dem Bürgersteig gingen. Es war früher Nachmittag, einige kamen sicher von einer späten Mittagspause zurück in die Büros der Umgebung, ein paar Touristen dazwischen und natürlich auch ein paar Rentner. In diesem Stadtteil kam alles zusammen.

Auf der anderen Straßenseite an der Bushaltestelle gegenüber hielt gerade ein kleiner Transporter und zwei Männer in blauen Overalls stiegen aus. Routiniert fing der eine an die Werbefläche der Bushaltestelle zu öffnen, der andere machte sich an den hinteren Türen des kleinen Transporters zu schaffen und förderte eine Rolle zu Tage. Offensichtlich war es Zeit, dass die alte Werbung weg kam und durch neue ersetzt wurde. Im Grunde waren die beiden Männer da draußen Aliyahs Kollegen.

Mit routinierten Griffen verschwand die alte Werbung für eine Getränkemarke, die dort seit einer Woche hing und eine neue Rolle wurde oben eingeklinkt und nach unten ausgerollt. Anschließend wurde die Werbefläche wieder zugeklappt und verschlossen, die beiden Männer verstauten die ausgediente Werbung der letzten Woche, stiegen in ihren Transporter und fuhren davon. Aliyah schaute dem Transporter hinterher wie er noch schnell über die von Grün auf Orange wechselnde Ampel davon fuhr. Ihr Blick ging aus professionellem Interesse zurück zur Werbefläche der Bushhaltestelle um zu schauen ob dort zufällig Werbung hängt, die von einem ihrer Kunden kommt. Fehlanzeige.

Was Aliyah stattdessen anblickte waren zwei traurige Kinderaugen die zu einem Kind gehörten, was ärmlich aussah, in Winterklamotten eingepackt war und vor einem zerstörten Haus in Mitte eines Trümmerfeldes stand. Prominent im Hintergrund zu sehen: die ukrainische Flagge. In großen Lettern zu den Füßen des Mädchens die IBAN eines Spendenkontos und das bekannte Logo einer Hilfsorganisation. Soweit so normal.

Aliyah hielt inne, etwas in ihr konnte die Augen nicht von dem Mädchen auf dem Foto nehmen. Sie wußte nicht genau was es war, sie kannte das Mädchen auf diesem Foto irgendwoher. Aliyah legte den Kopf etwas zur Seite, runzelte die Stirn und betrachtete das traurige Mädchen auf dem Foto weiter, plötzlich wußte sie woher sie das Mädchen kannte. Ruckartig wandte sie sich vom Fenster ab, lief so zügig zurück zu ihrem Platz, dass es die Aufmerksamkeit ihrer Kollegen erregte und alle Augen auf ihr ruhten. Nervös, weil sie ihr Team gestört hatte und alle Augen auf ihr ruhten, fing Aliyah an sich durch die Ordner auf ihrem Laptop zu klicken bis sie fand was sie suchte. Die Kampagne eines ihrer Kunden, Werbung für Kindershampoo was nicht in den Augen brennt. Sie öffnete den Ordner und klickt das erste Bild an, es öffnete sich auf ihrem großen Bildschirm. Es grinste sie das Mädchen von der Bushaltestellenwerbung an, guckte keck aus der Badewanne heraus mit einer Schaumkrone auf dem Kopf. Aliyah sank in ihrem Stuhl zurück und betrachtete das Bild lange und eindringlich. Sie betrachtete ihre Kollegen einen nach dem anderen und schüttelte dabei leicht ihren Kopf, ihre Blicke wurden mit nur kurz erwidert bevor ihre Kollegen sich weiter mit ihren Aufgaben beschäftigten. Aliyah flüsterte leise: „Ist das wirklich der richtige Weg?"

Aliyah wirkt nachdenklich.
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Veröffentlicht: März 2025