Eigentlich mache ich das hier nur aus zwei Gründen: Mein Vater findet es toll, mit mir zusammenzuspielen, und dass ich überhaupt ein Instrument spiele, und weil ich es toll finde, Applaus zu bekommen. Die Geige habe ich mir als Instrument selber ausgesucht, aber es ist ganz schön kompliziert zu spielen und so richtig gut bin ich auch nicht darin, ich dachte, es wäre einfacher. Aber nun sind wir hier. Letztes Jahr habe ich hier beim Konzerttag der Musikschule selber etwas vorgespielt, dieses Mal mit meinem Vater zusammen am Klavier. Das Stück, das er ausgesucht hat, ist ganz schön langweilig und gar nichts von dem, was ich sonst so übe. Aber immerhin habe ich mein tolles, neues Kleid an, das mir Omi nach meinen Wünschen genäht hat.
Ganz schön warm ist es hier im Raum, vor uns sind jetzt noch andere Geigenspieler dran, die bei meinem Geigenlehrer Unterricht haben. Da vorne in der ersten Reihe sitzt eine Familie mit zwei kleinen Geschwisterkindern, die total laut sind. Wie können die nur die ganze Zeit quasseln, während da vorne Leute spielen, die Eltern haben ihre Kinder so gar nicht im Griff.
So, wir sind jetzt dran. „Papa, steh auf, wir sind dran“, sage ich ihm und gehe vor ihm her nach vorne. Ich stelle meine Noten auf den Notenständer, kämme meine Haare, die beim Geige spielen oft im Weg sind, nach hinten und lege schon einmal meine Geige an. Mein Geigenlehrer erzählt noch etwas über uns zwei und dann kann es losgehen. Ich schaue währenddessen ins Publikum. Schade, so viele sind es ja gar nicht, obwohl alle Stühle besetzt sind in diesem kleinen Raum. Papa fängt an, auf dem Klavier, ich fange dann kurz danach an und warte auf sein Zeichen. War das jetzt schon sein Zeichen? Ja, das war es wohl, ich spiele meinen ersten, langgezogenen Ton. Das Stück ist für mich etwas langweilig, aber einfach zu spielen.
Schon sind wir auf der zweiten, dritten, vierten Seite. Die Kleinkinder in der ersten Reihe sind zum Glück ruhig. Und dann sind wir schon fertig. Jetzt kommt der schönste Moment für mich, den Applaus zu genießen. Ich achte darauf, wie ich stehe, nehme die Geige runter, schaue mit festem Blick ins Publikum, wo bleibt Papa? Wir wollen uns doch zusammen verbeugen. Da ist er neben mir, also, tiefe Verbeugung und gleich noch einmal. Der Applaus war ja ganz schön kurz.
Noch sitzen wir hier als Publikum und hören anderen Schülern des Geigenlehrers meiner Tochter zu. Aber gleich sind wir dran. Wir, das sind meine Tochter Nora und ich. Sie an der Geige, ich am Klavier. Ich habe uns ein Stück ausgesucht, das wir jetzt zusammen vorführen werden. Einmal im Jahr, kurz vor den Sommerferien, findet dieses Konzert von der Musikschule statt. Die stolzen Eltern und Großeltern sind geladen, der kleine Raum ist stickig voll, die Wärme drückt, Kinder warten hibbelig auf ihre Auftritte, kleinere Geschwister haben Mühe, sich zu konzentrieren und verbreiten Unruhe, Noras Geigenlehrer versucht, das Konzert zu moderieren.
Nora hatte oft keine Lust zu üben, obwohl ihr Teil des Stückes „Spiegel im Spiegel“ so einfach ist. Mein Klavierteil ist etwas anspruchsvoller. Ich bin gar nicht gut darin, vor anderen Leuten zu spielen. Meine Hände sind trotz der Wärme kalt und feucht. Erinnerungen werden in mir wach, als ich mit acht Jahren auf der Bühne stand und bei einem Flötenkonzert einfach ohnmächtig umgekippt bin vor Aufregung.
Applaus für die ältere Geigenspielerin vor uns, das hat sie echt gut gemacht. Nora steht schon auf, ihr Geigenlehrer hat ihr zugenickt. Ich nehme meine Notenmappe und gehe hinter Nora her nach vorne, auf den dunklen Flügel zu, setze mich und stelle meine Noten hin. Nora steht neben mir, der Geigenlehrer sagt ein paar nette Worte über uns. Hoffentlich verpasst Nora ihren Einsatz nicht wieder, der kam beim Proben immer etwas zu spät und nicht kraftvoll genug, gerade dieser erste, langgezogene Ton muss präzise kommen.
Ich zähle an: „Eins, zwei, drei, vier“ und fange an zu spielen. Der Anschlag vom Flügel fühlt sich ungewohnt an, ich habe noch nie auf diesem Instrument gespielt. Jetzt, nach zwei Takten kommt Noras Einsatz. Leider etwas zu spät und etwas zu zittrig, aber trotzdem gut. Ich muss mich konzentrieren. Jetzt kommt gleich die schwierigste Stelle für mich, hoffentlich bekomme ich sie hin. Geschafft, den kleinen Verspieler hat bestimmt niemand bemerkt. Nora ist auch noch im Takt, ab hier wird es einfach, wir sind im Flow und spielen gemeinsam, ich konzentriere mich auf den Rhythmus und die Töne, die der Flügel erzeugt, Nora spielt harmonisch dazu.
Und schon sind wir fertig. Nora setzt ihre Geige ab und lächelt ins Publikum. Ich stehe etwas ungelenk auf, der Klavierhocker möchte nicht so richtig zurückrutschen und ich bin eingeklemmt zwischen Hocker und Flügel. Da kommt schon Applaus, ich stelle mich neben Nora, voller väterlichen Stolz, sie schaut mich nur kurz an und lächelt. Wir verbeugen uns, der Applaus nimmt zwar schon wieder ab, aber Nora will sich noch mal verbeugen. Na gut, ich mache mit. Geschafft.
Letztes Jahr saßen wir hier auch schon in Noras Musikschule zusammen. Damals hat sie etwas alleine auf der Geige gespielt, das war richtig toll, sonst höre ich ja nie, wie sie spielt. Dieses Jahr spielt sie zusammen mit ihrem Vater, meinem Sohn, der sie auf dem Klavier begleitet. Ich dachte ja immer, Christoph würde nicht so gerne Musik machen, ganz anders als sein älterer Bruder. Aber vor einigen Jahren hat er sich plötzlich ein Klavier gekauft und wieder angefangen zu spielen. Da hat sich der jahrelange Klavierunterricht ja doch ausgezahlt. Ganz schön warm hier im Raum und ganz schön voll mit anderen Eltern, Großeltern und deren Kindern, die hier vorspielen. Gerade spielt noch eine ältere Schülerin des Geigenlehrers, ich weiß gar nicht, wann Christoph und Nora dran sind.
Anscheinend jetzt. Sie stehen auf und gehen nach vorne. Nora hat ihrem Vater extra noch gesagt, was er anziehen soll, damit es zu ihrem Kleid passt. Sie ist so groß geworden in diesem einen Jahr, wird so schnell erwachsen, ich mache schnell ein Foto von den beiden da vorne.
Der Geigenlehrer findet so nette Worte über die beiden, ich bin auch stolz darauf, dass die beiden da vorne jetzt auf der Bühne sind. Christoph fängt leise und ruhig - wie er eben so ist - an zu zählen und beginnt dann auf den Tasten zu spielen. Jetzt setzt Nora ein und begleitet ihn auf der Geige. Es ist so wunderbar, ich versuche noch ein Foto zu machen, wie die beiden spielen. Blöd, dass ich nicht in der ersten Reihe sitzen kann, da war schon alles voll, als wir kamen.
Das Stück ist wunderschön, ich weiß gar nicht, wie sie darauf gekommen sind, das muss ich nachher unbedingt fragen. Ich kenne das Stück auch gar nicht.
Die beiden spielen so harmonisch zusammen, ich bin so stolz auf meinen Sohn, er ist so ein guter Vater für Nora. Gerade nach der Trennung der Eltern ist es toll, wie viel Zeit er sich für sie nimmt und immer wieder Dinge mit ihr gemeinsam unternimmt. Er macht das so toll.
Da ist das Stück auch schon vorbei, mir kommen bei solchen Gedanken immer direkt die Tränen in die Augen. Gut, dass das Taschentuch schon griffbereit ist. Großer Applaus für die beiden, da muss ich die beiden nachher noch mal ganz doll in den Arm nehmen. So schön, dass sie mich eingeladen haben, bei diesem Moment dabei zu sein.